Der Habilitationslebenslauf Emmy Noethers existiert nur als Abschrift von fremder Hand, undatiert, jedoch mit dem Eingangsvermerk 4.6.1919 (Universitätsarchiv Göttingen Kur., 12099 Personalakte Prof. Dr. Emmy Noether, o. P.; auch vorhanden in ebenda, Math.-Nat. Pers., in 17: Personalakte Prof. Noether, o. P.) Diese Abschrift enthält Fehler oder Verschreiber, von denen nicht klar ist, ob sie auf Emmy Noether zurückgehen oder auf den Abschreiber. Vermerkt sind diese jeweils durch [sic!]. In eckigen Klammern wurden zudem die Nummern aus ihrer Publikationsliste in hinzugefügt, auf die sich Emmy Noether in ihrem Lebenslauf bezieht.
Ich, Amalie Emmy Noether, bin am 23. März 1882 zu Erlangen geboren, als Tochter des Universitätsprofessors Dr. Max Noether und seiner Ehefrau Ida, geb. Kaufmann. 1903 erwarb ich als Privatstudierende das Absolutorium des Realgymnasiums Nürnberg, vorher, 1900-1902, war ich als Hörerin an der Universität Erlangen zum Studium der Mathematik zugelassen. Das Wintersemester 1903/04 verbrachte ich in Göttingen, Herbst 1904 bis Frühjahr 1908 war ich in Erlangen als Studierende der Mathematik immatrikuliert.
Während meiner Studienzeit waren meine mathematischen Lehrer die Herren Gordan und Noether in Erlangen, Hilbert, Minkowski und Blumenthal in Göttingen. Dezember 1907 promovierte ich mit einer Arbeit „Über die Bildung des Formensystems der ternären biquadratischen Form“ in der philosophischen Fakultät der Universität Erlangen summa cum laude.
Nach der Promotion arbeitete ich wissenschaftlich mathematisch weiter und wurde von den Leiter[n] des Erlanger mathematischen Seminars; [sic!] den Herren M[ax] Noether, E[rhard] Schmidt, E[rnst] Fischer privatim zur Unterstützung bei den seminaristischen Vorträgen und Übungen beigezogen. Im Sommersemester 1915 kam ich, aufgefordert von den hiesigen Mathematikern, nach Göttingen. Mit dem Wintersemester 1916 habe ich zur Unterstützung von Herrn Hilbert regelmäßig im hiesigen mathematischen Seminar vorgetragen und zwar über algebraische Fragen, insbesondere Invariantentheorie, Differentialinvarianten, abstrakte Mengentheorie, Differential- und Integralgleichungen. An der mathematischen Gesellschaft beteiligte ich mich durch eine Reihe von Vorträgen.
Wissenschaftliche Anregung verdanke ich wesentlich dem persönlichen mathematischen Verkehr in Erlangen und in Göttingen. Vor allem bin ich Herrn E[rnst] Fischer zu Dank verpflichtet, der mir den entscheidenden Anstoß zu der Beschäftigung mit abstrakter Algebra in arithmetischer Auffassung gab, was für all meine späteren Arbeiten bestimmend blieb und [auch] für solche nicht rein algebraischer Natur.
Meine Dissertation und eine weitere Arbeit „Zur Invariantentheorie der Formen von Variabeln“ gehören noch dem Gebiet der formalen Invariantentheorie an, die mir als Schülerin Gordans nahe lag [Nr. 1 bis 4]. Die große Arbeit „Körper und Systeme rationaler Funktionen“ beschäftigt sich mit allgemeinen Basisfragen, erledigt vollständig das Problem der rationallen [sic!] Darstellbarkeit und gibt Beiträge zu den übrigen Endlichkeitsfragen [Nr. 5 und 6]. Eine Anwendung dieser Resultate ist enthalten in der Arbeit „Invarianten endlicher Gruppen“, die einen ganz elementaren Endlichkeitsbeweis dieser Invarianten bringt mit wirklicher Angabe der Basis [Nr. 7]. In diese Gedankenreihe gehört weiter die Arbeit „Algebraische Gleichungen mit vorgeschriebener Gruppe“ die einen Beitrag zu der Konstruktion solcher Gleichungen bei beliebigem Rationalitätsbereich liefert [Nr. 11]. Für Gleichungen dritten und vierten Grades ist diese Parameterkonstruktion als Erlanger Dissertation im einzelnen durchgeführt worden von F[ritz] Seidelmann.
Die Arbeit über „Ganze rationale Darstellung von Invarianten“ weißt [sic!] eine von D[avid] Hilbert ausgesprochene Vermutung als zutreffend nach und gibt zugleich einen rein begrifflichen Beweis für die Reihenentwicklungen der Invariantentheorie, der auf der Aequivalenz linearer Formenscharen beruht und teilweise Gedankengängen von E[rnst] Fischer nachgebildet ist [Nr. 8]. Diese Arbeit gab dann ihrerseits wieder E[rnst] Fischer den Anstoß zu einer größeren Arbeit über „Differentiationsprozesse der Algebra“ (Crelle 148) [= Ernst Fischer, Differentiationsprozesse der Algebra, in: Journal für die reine und angewandte Mathematik 148 (1918), S. 1-78].
Zu diesen rein algebraischen Arbeiten gehören auch zwei noch unveröffentlichte: ein Endlichkeitsbeweis für die ganzzahligen binären Invarianten [Nr. 15], über den ich in der mathematischen Gesellschaft berichtet habe, [Vortrag Emmy Noethers am 5.11.1918 vor der Göttinger Mathematischen Gesellschaft über „Die Endlichkeit der ganzzahligen Invarianten binärer Formen“, Zusammenfassung in: Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 28 (1919) Zweite Abteilung, S. 29] und eine gemeinsam mit W[erner] Schmeidler [1890-1969] verfaßte Untersuchung über nicht-kommunative, einseitige Moduln, die durch eine gelegentliche Frage von E[dmund] Landau angeregt wurde [Nr. 17]. Hierher gehört auch die Beschäftigung mit Fragen der Algebra und Modultheorie modp [= modulo p; p steht für Primzahl] und mit der Frage nach der „Alternative bei nicht linearen Gleichungssystemen“, über deren Resultate ich gleichfalls der mathematischen Gesellschaft berichtet habe. [Emmy Noether, Über ganzzahlige Polynome und Potenzreihen, Vortrag am 26. November 1918 vor der Göttinger Mathematischen Gesellschaft, Zusammenfassung in: Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 28 (1919) Zweite Abteilung, S. 29 f.]
Die größere Arbeit „Die allgemeinsten Bereiche aus ganzen transzendenten Zahlen“ benutzt neben den algebraisch-arithmetischen Prinzipien auch solche der abstrakten Mengentheorie [Nr. 9]. Nachdem es Zermelo gelungen war, überhaupt einen Bereich von ganzen transzendenten Zahlen zu konstruieren, [Ernst Zermelo, Über ganze transzendente Zahlen, in: Mathematische Annalen 75 (1914), S. 434-442] wird hier ein Überblick über die Gesamtheit der möglichen Bereiche gegeben; und zugleich die Konstruktion der ganzen Größen auf beliebige abstrakt definierte Körper ausgedehnt. Derselben Richtung gehört die Arbeit „Funktionalgleichungen der isomorphen Abbildung“ an, die die allgemeinste isomorphe Abbildung eines beliebig abstrakt definierten Körpers angibt [Nr. 10].
Schließlich sind noch zwei Arbeiten über Differentialinvarianten und Variationsprobleme zu nennen, die dadurch mitveranlaßt sind, daß ich die Herren Klein und Hilbert bei ihrer Beschäftigung mit der Einsteinschen allgemeinen Relativitätstheorie unterstützte. Die vorläufige Note „Invarianten beliebiger Differentialausdrücke“ gibt für diese Differentialausdrücke die Zurückführung der Fragen nach den allgemeinsten Invarianten gegenüber der Gruppe aller analytischen Transformationen auf eine Frage der linearen Invariantentheorie [Nr. 12]. Die zweite Arbeit „Invariante Variationsprobleme“, die ich als Habilitationsschrift bezeichnet habe, beschäftigt sich mit beliebigen endlichen oder unendlichen kontinuierlichen Gruppen im Lie'schen Sinne [Eine Lie-Gruppe (auch Liesche Gruppe), benannt nach dem norwegischen Mathematiker Sophus Lie (1842-1899), der von 1886 bis 1898 in Leipzig gelehrt hatte, ist eine mathematische Struktur, die zur Beschreibung von kontinuierlichen Symmetrien verwendet wird. Lie-Gruppen spielen auch heute noch sowohl in der Mathematik als auch in der theoretischen Physik, vor allem in der Teilchenphysik, eine wichtige Rolle.] und zieht die Folgerungen aus der Invarianz eines Variationsproblems gegenüber einer solchen Gruppe. In dem allgemeinen Resultate sind als Spezialfälle die in der Mechanik bekannten Sätze über erste Integrale, die Erhaltungssätze und die in der Relativitätstheorie aufgetretenden [sic!] Abhängigkeiten zwischen den Feldgleichungen enthalten, während andererseits auch die Umkehrung dieser Sätze gegeben wird. [Nr. 13] [Diese Arbeit enthält die beiden Noether-Theoreme.]
Ferner möchte ich noch erwähnen, daß außer der oben genannten noch eine weitere Erlanger Dissertation von mir angeregt worden ist: „Über Verzweigung der Lösungen nichtlinearer Differentialgleichungen“ von H[ans] Falckenberg. Es handelt sich dort um Dualitätsuntersuchungen im Anschluß an die Schmidtische [sic] Arbeit über nichtlineare Integralgleichungen.[Erhard Schmid, Zur Theorie der linearen und nichtlinearen Integralgleichungen, in: Mathematische Annalen 63 (1907), S. 433-476 (Teil 1), 64 (1907), S. 161-174 (Teil 2), 65 (1908), S. 370-399 (Teil 3).9]
gez. Dr. Noether