Die Stunde hat geschlagen, Emmy Noether, da wir von Dir für immer Abschied nehmen sollen. Viele wird Dein Tod im Tiefsten bewegen; niemanden tiefer als Deinen geliebten Bruder Fritz, der fast durch den halben Erdteil von Dir getrennt lebt. So kann er nicht hier sein und kann Dir nur durch meinen Mund sein letztes Lebewohl zurufen. Von ihm sind diese Blumen, die ich Dir auf den Sarg lege. Wir beugen uns vor seinem Schmerz, dem Worte zu verleihen uns nicht zusteht.
Aber ich empfinde es als einen Auftrag, in dieser Stunde den Gefühlen Deiner deutschen Kollegen Ausdruck zu geben, derer, die hier sind, und derer, die in der Heimat unseren Zielen und Deiner Person Treue hielten. Und unsere Muttersprache möchte ich an Deinem Grabe erklingen lassen, – die Sprache, in der Dein Herz gefühlt hat, in der Du Deine Gedanken gedacht hast – und die uns heilig bleibt, wer immer sich die Herrschaft über den deutschen Boden anmaßt. In fremder Erde wirst Du ruhen, in der Erde dieses großen gastlichen Landes, das Dir eine Wirkungsstätte bot, als die Heimat sich Dir verschloß. Es drängt uns in diesem Augenblick, Amerika dafür zu danken, was es für die deutsche Wissenschaft in den beiden letzten drangvollen Jahren getan hat, und insbesondere Bryn Mawr zu danken, das froh und stolz war, Dich unter seine Lehrerinnen aufzunehmen.
Es war mit Recht stolz auf Dich. Denn Du warst eine große Mathematikerin, ich trage kein Bedenken zu sagen, die größte, von der die Geschichte zu berichten weiß. Die Algebra hat ein anderes Gesicht bekommen durch Dein Werk. Mit vielen deutschen Buchstaben hast Du Deinen Namen in ihre Tafel unauslöschlich eingetragen. Vielleicht hat niemand so sehr wie Du dazu beigetragen, die axiomatische Denkweise, die früher nur zur logischen Erhellung der Grundlagen benutzt wurde, in ein schlagkräftiges Instrument für die konkrete vorwärtsstrebende Forschung umzuformen. Der nächstverwandte unter Deinen Vorgängern in der Algebra und Zahlentheorie ist wohl Dedekind gewesen.
Wenn ich mir Dein Wesen in dieser Stunde vor Augen stelle, so sind es vor allem zwei Züge, die sich mir am stärksten aufdrängen. Der erste ist die urwüchsige, produktive Gewalt Deines mathematischen Denkens. Es war als sprengte sie, eine fast zu pralle Frucht, die Schale Deiner Menschlichkeit. Du warst Instrument und Gefäß des Geistes, der aus Dir brach. Da gab es keine zarten Rücksichten, die Sache, um die es ging, kommandierte allein. Nichts Behutsames und Wohlausbalanciertes war in Deinem Wesen; Du warst nicht Ton, von den Künstlerhänden Gottes zu harmonischer Gestalt geformt, sondern ein Brocken menschlichen Urgesteins, dem er seinen heißen Schöpferodem eingeblasen hatte.
Die Macht Deines Genies schien insbesondere die Grenzen Deines Geschlechts gesprengt zu haben. Darum nannten wir Dich in Göttingen meist, in ehrfürchtigem Spott, den Noether. Und doch warst Du eine mütterliche Frau mit einem warmen Kinderherzen. Deinen Schülern hast Du nicht nur im Geiste gegeben, ohne Rückhalt und aus der Fülle, sondern sie scharten sich um Dich wie Küchlein unter den Flügeln einer großen Klucke; Du liebtest sie, sorgtest um sie und lebtest mit ihnen in enger Gemeinschaft.
Und dies ist der zweite Zug, der mir an Deiner Natur vor allem bezeichnend dünkt: Dein Herz kannte keinen Arg; es glaubte nicht an das Böse, ja, es kam Dir überhaupt nicht in den Sinn, daß das Böse unter den Menschen eine Rolle spiele. Niemals ist mir dies eindrücklicher geworden, als in dem letzten, dem stürmischen Sommer 1933, den wir gemeinsam in Göttingen verbrachten. Mitten in dem furchtbaren Kampf, Zusammenbruch und Aufbruch, der uns umtobte, in aller Parteiung, in einem Meer von Haß und Gewalt, von Angst und Verzweiflung und lastender Sorge – gingst Du Deinen Weg wie vorher, mit demselben Eifer den mathematischen Problemen nachdenkend. War Dir der Hörsaal im Institut verwehrt, so sammeltest Du Deine Schüler in der eigenen Wohnung; auch denen im braunen Hemd bliebst Du Freund, Du zweifeltest keinen Augenblick an ihrer Redlichkeit. Unbekümmert um Dein persönliches Schicksal, ohne Angst und offen wie immer, versöhnend wie immer, gingst Du Deinen Weg. Viele von uns fanden, daß da eine Feindschaft ausgebrochen ist, in der es keinen Pardon gibt; an Deine Seele rührte das alles nicht heran. Mit Freuden bist Du noch im letzten Sommer nach Göttingen zurückgegangen, und hast dort, wie wenn alles beim alten geblieben wäre, im Kreise gleichstrebender deutscher Mathematiker gelebt und gearbeitet; dasselbe gedachtest Du in diesem Sommer zu tun.
Den Kranz, den die Göttinger Mathematiker mich gebeten haben, auf Dein Grab zu legen, hast Du wahrhaftig verdient.
Wir wissen nicht, was der Tod ist. Aber ist es nicht ein lieblicher Gedanke, sich vorzustellen, daß doch nach diesem Erdenleben sich die Seelen noch einmal erkennen, und wie dann die Seele Deines Vaters Dir begegnen würde? Hat je ein Vater in seiner Tochter so große selbstständige Nachfolge gefunden?
Mitten aus vollster Schaffenskraft bist Du uns plötzlich entrissen worden; noch steht uns Dein plötzlicher Weggang wie der Widerschein eines Blitzes im Gesicht. Aber Dein Gedächtnis wird lange lebendig bleiben, in der Wissenschaft und unter Deinen Schülern, Freunden und Kollegen; dafür hast Du durch Dein Werk und Deine Persönlichkeit gesorgt.
Leb wohl denn, Emmy Noether, Du große Mathematikerin und große Frau. Dein Vergängliches vergehe, Dein Unvergängliches wollen wir bewahren.
Hermann Weyl.
zitiert nach: Peter Roquette, Zu Emmy Noethers Geburtstag. Einige neue Noetheriana, in: Mitteilungen der DMV 15 (2007), S. 15-21, hier S. 19 f.